Die Mittagsfrau – Ein Kriegsroman von Julia Franck [Eine Rezension]
Kurz nach Kriegsende wird der kleine Peter auf einem Bahnhof bei Stettin von seiner Mutter einfach so verlassen.
Mit diesem Buch soll versucht werden, die Gründe, die seine Mutter Helene wohl gehabt haben mag darzulegen und zu erklären.
Und vielleicht auch zu verstehen.
Um aus der Hoffnungslosigkeit eines maroden Handwerksbetriebs samt gemütskranker Mutter zu entfliehen, ziehen Martha und Helene von Bautzen nach Berlin und tauchen dort mit Hilfe ihrer lebenslustigen Tante ein in die “Swinging Twentys”, eine Zeit voller Musik, Tanz, Drogen, Promiskuität, aber auch eine Zeit bitterer Armut.
Die intelligente Helene träumt von einer Universitätsausbildung, aber ohne Geld und dann noch als Mädchen ist dies damals nicht möglich.
Sie verliebt sich in den feinsinnigen Philophiestudenten Carl Wertheimer und verlebt mit ihm eine glückliche Zeit voller Zukunftspläne.
Als Carl tragisch ums Leben kommt, versinkt Helene in eine Art Katatonie.
Um ihren Schmerz zu vergessen, schweigt sie nur noch und stürzt sich gleichzeitig in ihre Arbeit als Krankenschwester.
Als schließlich der Anfangs sehr charmante Ingenieur Wilhelm um sie freit, nimmt sie seinen Antrag teils aus Fatalismus, teils weil sie endlich ordentliche Papiere braucht an. Denn inzwischen gelten in Deutschland Rassegesetze, denen zur Folge sie wegen ihrer jüdischen Herkunft nicht mehr arbeiten dürfte.
Das Paar zieht nach Stettin, die Ehe mit dem herrschsüchtigen Mann wird ein Fiasko. Sie lässt sich misshandeln, unterdrücken und beschimpfen, kocht und putzt wie eine Sklavin. Und auch die Geburt ihres Sohnes Peter kann sie nicht mehr aus der Sprachlosigkeit und zurück ins Leben retten.
Sie erlebt den Schrecken des 2. Weltkrieges als Krankenschwester, arbeitet rund um die Uhr im Krankenhaus, aber mit ihrem Kind zuhause kann sie nichts anfangen.
Deswegen verlässt sie den 7jährigen, mit einem Koffer und ein bisschen Geld. Denn sie kann ihm nichts bieten: keine Worte, kein Leben.
Inhalt:
Julia Franck
Julia Franck, Jahrgang 1970) wurde in Ost-Berlin geboren und flüchte 1978 mit ihrer Familie nach Westdeutschland. Sie studierte Jura, Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur – beendete aber nicht alle ihre Studiengänge.
Für das Buch “Die Mittagsfrau” erhielt sie 2007 den Deutschen Buchpreis.
Julia Franck lebt mit ihren Kindern in Berlin, wo sie allen möglichen künstlerischen Tätigkeiten nachgeht.
Die Mittagsfrau – Meine Meinung
Die hochbegabte Autorin Julia Franck verarbeitet in ihrem Erstlingswerk “Die Mittagsfrau” die Geschichte ihres eigenen Vaters. Dieser wurde tatsächlich von seiner eigenen Mutter an irgendeinem Bahnhof verlassen und konnte dieses Erlebnis nie verwinden.
Sie schreibt fast emotionslos, fast sachlich und wertet nicht. Dennoch ist dieses Buch auch sehr sinnlich – im Guten wie im Schlechten (auch der Geruch von menschlichen Ausdünstungen kann eine sinnliche Erfahrung sein – wenn auch keine übertrieben schöne)
Typische Geschichtsmerkmale der Nazizeit, z.B. Holocaust, verschiedene Doktrinen, Kriegsgeschehen spielen in dieser Geschichte im Konsens eine Rolle, wenn auch keine tragende. Das finde ich mal ganz interessant, denn natürlich können Menschen auch unabhängig vom Regime eine schwere Zeit durchmachen.
Der Titel “Mittagsfrau” geht im Übrigen auf eine Bauernsage aus der Gegend der Lausitz zurück. Die Mittagsfrau ist eine Frau mit Sichel, welche über die Felder geht und die Bauern, die trotz des Gebots der Mittagsrast, arbeiten, tötet. Man kann aber die Mittagsfrau auch besänftigen, in dem man mit ihr spricht.
Und so wird das Thema Sprache, Kommunikation, Austausch zum roten Faden in dieser Geschichte. Denn vielen der Personen, aber ganz besonders Helene fehlt diese Gabe. Sie arbeitet ohne Pause, aber sie hält niemals inne, um sich mit ihrer Umwelt zu verständigen und schweigt selbst dann, wenn ihr Unrecht wiederfährt.
Mein Fazit:
Und nun zur Frage, ob man verstehen kann, dass sie ihr Kind am Bahnhof verlässt?
Ich kann es nicht verstehen.
Helene ist eine intelligente Frau, die es nicht geschafft hat, den Kreislauf der Neurosen in ihrer Familie zu durchbrechen. Sie lässt ihr Kind im Stich, genauso wie ihre Mutter und eigentlich ihr gesamtes Umfeld das mit ihr getan haben.
Aber jedermann, jederfrau hat selbst die Wahl, was er, sie aus ihrem Leben macht.
Mich hat “Die Mittagsfrau” sehr mitgenommen und einige schlechte Träume beschert.
Vielleicht weil mich das Schicksal der Helene ein bisschen an meine Mutter erinnert hat.
Wem könnte dieses Buch gefallen:
- Lesern, die gerne über Frauenschicksale lesen
- Lesern, die gerne über Schicksale während der Nazidiktatur lesen
- Leser, die gute Literatur mögen
Für wen ist dieses Buch weniger geeignet:
- Mamas, die sich allzu sehr in die Seele eines verlassenen Kindes einfühlen können
Bibliografisches
- Titel: Die Mittagsfrau
- Autor: Julia Franck
- Taschenbuch: 429 Seiten
- Verlag: Fischer Taschenbuch; Auflage: 1. (April 2009)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3596175526
- Preis Stand August 2017: 9,99 € (Kindle) 12,00 € (Gebundene Ausgabe), 9,95 € (Taschenbuch), 14,95 € (Audio CD)
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(Alle Angaben ohne Gewähr)
Ich glaube das ist ein hartes Buch und ich könnte sie auch nicht verstehen. Bin aber auch im Gegensatz der Typ, der Laut wird, wenn mir etwas nicht passt. Ich könnte nicht schweigen. Auch dies bringt mich oft in Teufels Küche.
Andererseits hatte ich beim Lesen auch den Gedanken, ob es nicht sogar “gut” für den Jungen war. Denn er wurde so wohl nicht als Jude verfolgt und so sicher vor dem KZ.
Auch wenn es ansonsten naürlich sch**** war.
LG Mella
@Mella: Vielleicht war es gut für den Jungen, nicht mehr mit einer psychische gestörten Frau zusammen zu sein. Wer weiß? Es ist aber nicht der normale Lauf der Dinge, er wird seine eigenen Probleme auch schwer in den Griff bekommen, wenn er nicht für sich das Problem der Mutter hat lösen können.
Wer weiß das aber alles?
Dennoch ist es immer besser, zu reden, als zu schweigen. Mag es auch manchmal sinnvoll sein, im 1. Moment die Klappe zu halten (das muss ich immer noch und auch schmerzhaft lernen), aber letztendlich sollte man kommunizieren, innehalten – bevor die Mittagsfrau wieder mit ihrer Sichel kommt ;-)
LG
Sabienes
Da hast Du auf jeden Fall recht. Ich finde Schweigen ist das schlimmste! Und deswegen bin ich auch ein Plappermaul, welches auch im ersten Moment die Klappe nicht halten kann und dieses schmerzhaften Erfahrungen auch kennt.
Trotzdem besser als zu schweigen…
LG Mella
@Mella: Man kann ja lernen, laut zu schweigen ;-)
LG
Das Buch hat mich sehr bewegt und die Bilder habe ich lange in meinem Kopf gehabt.Ein wirklich beeindruckendes Buch von Julia Franck. Das neue Buch von ihr “Rücken an Rücken” möchte ich auch noch gern lesen. LG von Rana
@Rana: Die Beschreibung von “Rücken an Rücken” klingt ja auch wieder so unglücklich und schicksalshaft! Ich brauche jetzt erst mal wieder die schöne, heile Verbrecherwelt in einem Thriller ;-)
LG
Liebe Sabiene,
Deine Reszension weckt das Interesse, dieses Buch selbst einmal zu lesen. Auch wenn man mit den Protagonisten eines Buches nicht einer Meinung ist, es kommt ja auf das Können des Autors an, den Leser miteinzubinden in das Geschehen. Hier scheint es offensichtlich gelungen.
Verstehen kann man solche Handlungsweisen – vor allem wenn man selbst Mutter ist – wohl nicht, aber es schadet sicher auch nicht, einmal darüber zu lesen.
Lieben Gruß
moni
@moni: Dadurch dass das Buch mit der Szene am Bahnhof beginnt und erst dann in einer Rückblende das Leben von Helene erzählt, ist man natürlich voreingenommen.
Aber ich glaube, dass das auch die Absicht der Autorin war, deren Vater ja dies erleben musste.
LG
Ich glaube, ich muß dir ab und zu mal ein Buch schicken, damit du beschreiben kannst, was ich davon halte….. Eine sehr schöne Rezension, echt! (Jetzt bin ich gespannt, was du nächstens über K.d. Lang schreibst, kenn ich noch nicht)
@Susanne: LOL!
LG
Sabienes